Der 8. Mai ist der Tag der Befreiung von der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft. Aber die Deutschen in ihrer Gesamtheit waren keine Opfer. Opfer waren sie bloss im Einzelfalle, nämlich dort, wo sie individuell den Nationalsozialisten Widerstand geleistet haben. „Das Hakenkreuz ist in die deutsche Masse (…) hineingeprägt worden (…) wie in einen formlos-nachgiebigen, breiigen Teig“ erinnert sich der Historiker Sebastian Haffner. Die meisten haben mitgemacht oder weggesehen.
Des 8. Mai zu gedenken ist zwar keine Frage der Schuld, denn diese vererbt sich nicht. Sie ist jedoch eine Frage der Verantwortung: Die Millionen im Holocaust ermordeter Juden und vieler anderer können wir nicht ins Leben zurückholen, wir können und müssen aber dafür Sorge tragen, dass sich eine Herrschaft wie die nationalsozialistische nicht wiederholt. Die politische Kultur der Bundesrepublik hat daher einige Mechanismen gegen einen Rückfall in die Barbarei entwickelt.
Nicht nur gibt es ein Verbot der Wiederbetätigung, auch werden im Grundgesetz die Parteien für ihre Mitwirkung bei der politischen Willensbildung des Volks ausdrücklich gewürdigt. Die bundesdeutsche Gesellschaft ist pluralistischer und weniger autoritär als die zu Weimarer Zeiten. Die Verpflichtung zu Europa und die Unverletztlichkeit der deutschen Grenzen infrage zu stellen, sind zu recht tabuisiert. Nicht zuletzt gibt es Rituale des Gedenkens.
Das ritualisierte Gedenken der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft ist Teil des demokratischen Immunsystems dieser Gesellschaft und ihrer politischen Ordnung. Geschichte gibt es nicht à la carte; man nimmt sie in ihrer Gesamtheit an oder lehnt sie in ihrer Gesamtheit ab. Deutscher zu sein, heisst, Teil einen historischen Kontinuums zu sein, das Höhen und Tiefen hat. Auch Deutsche mit Migrationshintergrund sind aufgerufen, alle Teile der Geschichte anzunehmen.
Ob man den 8. Mai zu einem Feiertag macht oder nicht, ist zweitrangig. Wichtig ist vielmehr, dass Vergangenes nicht in Vergessenheit gerät. Die politische Kultur der Bundesrepublik beruht auf einem völligen Bruch mit allem, was die Unrechtsherrschaft unter Hitler ausgemacht hat. Ohne Erinnerung wird das nicht möglich sein. Nie wieder darf das Hakenkreuz in die deutsche Masse hineingeprägt werden wie in einen formlos-nachgiebigen, breiigen Teig.
Die Nazis haben das Wort Freiheit pervertiert, als sie in Auschwitz die Parole “Arbeit macht frei” ausgaben. Die Alliierten haben dem Wort seine wahre Bedeutung zurückgegeben: Ohne die bedingungslose Kapitulation der nationalsozialistischen Herrschaft konnte es keine Freiheit geben. Der 8. Mai ist der Tag der Befreiung.
Nachtrag 10. Mai 2020
In der “Jüdischen Allgemeinen” hält der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn Rückschau auf den Umgang der Bundesrepublik mit der Nazivergangenheit Deutschlands und resümiert: “Entgegen allen Proklamationen bezüglich einer angeblichen Erfolgsgeschichte der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Geschichte hat es eine ernsthafte Aufarbeitung der NS-Vergangenheit faktisch nur rudimentär gegeben.”