Nahosterklärer wider die “Medienmeute”

Vielleicht die FAZ? Nein, dort werden die syrischen Anti-Assad-Kräfte als “Rebellen” oder “Aufständische” bezeichnet. Als “Freiheitskämpfer” jedenfalls nicht oder nur in Anführungszeichen. Oder der amerikanische Sender CNN? Nein, dort spricht man von “freedom fighters” meist in Anführungsstrichen. Grundsätzlich bevorzugt man auch hier die Ausdrücke “rebels” oder “insurgents“.

Was ist mit der britischen BBC? Fehlanzeige, dort wird “freedom fighters” gelegentlich als Eigenbezeichnung erwähnt, sie selbst gibt aber den Begriffen “rebels” und “insurgents” den Vorzug. Dann aber bei der ARD? Auch falsch, dort scheint man von “Freiheitskämpfern” im Zusammenhang mit Syrien überhaupt nur zwei Mal gesprochen zu haben. Ansonsten ist auch hier von “Aufständischen” oder “Rebellen” die Rede. Und das ZDF? Auch das ZDF meidet die Bezeichnung “Freiheitskämpfer” im Zusammenhang mit syrischen Rebellen.

Bleibt noch das Internet. Sucht man allgemein nach Seiten, in denen “Syrien” und Freiheitskämpfer” in einem Atemzug genannt werden, stösst man ebenfalls auf nur wenige Resultate. Meist steht “Freiheitskämpfer” in Anführungszeichen, praktisch keine seriöse Nachrichtenseite will sich den Begriff zu eigen machen. Auch Aljazeera bedient sich offenbar eher Begriffen wie “syrische Opposition” (muʿāraḍa sūriyya) oder (auf der englischen Seite:) “rebels“.

Soweit die Faktenlage. Das kann einige Nahosterklärer jedoch nicht daran hindern, die alte Parole “Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit” ungeniert wie eine Monstranz vor sich herzutragen und “Medienlügen über Syrien” zu beklagen. Angeblich würden die syrischen Rebellen vn einer in- und ausländischen “Medienmeute” bar jeglicher kritischen Distanz immer wieder zu “Freiheitskämpfern” hochgejubelt – von Aljazeera bis CNN, BBC, ARD und ZDF. Tatsächlich, so steht es da.

Die Wahrheit jedoch ist eine andere, wie man oben sieht. Klar und deutlich: Die Medien meiden den Begriff “Freiheitskämpfer” im Zusammenhang mit den Aufständischen, weil er als tendenziös gilt.

(N.B. Der Beitrag wurde am 7.4.13 sprachlich überarbeitet.)

 

 

 

 

 

Syrien nach Assad (2)

Häufig macht sich eine gewisse Hilflosigkeit breit, wenn es um die Ursachen von Gewalt geht, wie derzeit in Syrien zu beobachten. Viele Kommentatoren wissen sich dann keinen anderen Rat, als die Misere auf ein verunglücktes nation building, verschuldet durch koloniale Willkür, zurückzuführen. Eine ethnisch wie konfessionell heterogene Menschenmasse, so das gängige Narrativ (hier eines von vielen Beispielen), sei in einem von fremden Mächten und aus eigennütizgen Gründen zusammengezimmerten Staatsgebilde zusammengepfercht worden, dessen Fliehkräfte nur durch die eiserne Faust eines Diktators in Schach gehalten werden.

Für die Arabische Welt stimmt das jedoch allenfalls zum Teil. In Wahrheit haben die Kolonialmächte es sich alles andere als leicht gemacht, was die Grenzziehung anbetrifft. Ihre Sorge galt – nicht nur, aber auch – der Stabilität der zukünftigen Staaten des Nahen Ostens, deren gegenwärtige Grenzen auch nicht einfach den lokalen Bevölkerungen aufoktroyiert worden, sondern in der Auseinandersetzung mit regionalen Kräften entstanden sind, die die Kolonialmächte für sich einzuspannen versuchten.

Belassen wir es vorerst bei dieser Feststellung. (Für all diejenigen, die mehr darüber wissen wollen, darf ich freundlich auf mein Büchlein “Das Ende des levantinischen Zeitalters” (2013) verweisen, und dort auf die Kap. “Friedenskonferenz in Paris”, 202 ff. und “Eine Wüste wird geteilt”, 209 ff; ebenso Efraim Karsh: “Islamic Imperialism” (2006), S. 95, 102; vom selben Autor “Empires of the Sand” (2001), dort im Kap. “The Entente’s Road to War”, S. 118 ff., bes. S. 119; s. auch hier.) Der Hass, der sich in Syrien gegen das Regime bahn bricht, ist jedenfalls nicht einfach eine Spätfolge vermeintlich willkürlicher Grenzziehungen, sondern hat andere Ursachen. Um das zu verstehen, muss man einen Blick in den syrischen Mikrokosmos werfen.

Vor allem die Ohnmacht des einzelnen angesichts eines allmächtigen Staatsapparats, der immer nur nimmt ohne zu geben, ist ein zentrales Problem. Obwohl der syrische Staat jedem Bürger einen Arbeitsplatz verspricht, war schon vor dem Bürgerkrieg die Armut grosser Teile der Bevölkerung unübersehbar. Auch muss ein Antragsteller zum Teil Jahre warten, bis ihm eine Stelle zugewiesen wird, doch wird er selbst dann nur so wenig verdienen, dass er damit über die Runden kommt – vorausgesetzt, er hat keine Miete zu zahlen.

Frustration baut sich auf, wenn die junge Generation eine Familie gründen wollen, es mangels Einkommen aber noch nicht einmal schaffen, einen eigenen Haushalt zu finanzieren. Da ohne Ehe ein Zusammenleben kaum möglich ist, müssen viele in zwei Jobs arbeiten, ohne jemals Aussicht darauf zu haben, die eigene Situation entscheidend verbessern zu können.

An dieser Stelle muss einiges zur Korruption gesagt werden. Diese besteht nicht einfach darin, dass Beamte staatliche Leistungen nur gegen Entgelt in die eigene Tasche zur Verfügung stellen. Vielmehr ist es so, dass Geheimdienstler und andere der Staatsmacht Nahestehende sich selbst zu den Läden, Hotels und Firmen begeben, um den Umsatz zu taxieren und vom Inhaber eine entsprechende, als realistisch eingeschätzte Summe zu kassieren. Mitarbeiter des Ordnungsamtes schliessen denn auch keine Restaurants oder Metzgereien, wenn diese gegen Hygienevorschriften verstossen, vielmehr diese sind das Instrument, mit denen die Ladenbesitzer erpresst werden.

In arabischen Ländern wie Syrien hat der einzelne Bürger vom Staat nichts zu erwarten. Das geht so weit, dass jemand, der beispielsweise Opfer eines Verbrechens wird, nicht darauf zählen kann, dass die Polizei ihm hilft. Es ist möglich, dass diese unter dem Vorwand, kein Benzin zu haben, gar nicht erst ausrückt. Die Polizei schreitet auch nicht in Fällen von Kinderarbeit ein, obgleich diese in Syrien omnipräsent ist. Kinder stehen dabei nicht nur häufig hinter dem Tresen, sie verrichten teilweise auch schwere Arbeiten – am hellichten Tag und in aller Öffentlichkeit, ohne dass Polizei oder Ordnungsamt eingriffen.

Auch das Justizwesen ist ein potemkinsches Dorf. Wer vor Gericht zieht, um sein Recht zu bekommen, wird rasch die Erfahrung machen, dass derjenige als Sieger aus dem Verfahren hervorgeht, der am besten zu bestechen weiss. Hierbei geht es nicht nur um die Höhe der Summe für Richter und Staatsanwälte, auch Zeugen wollen gekauft sein. Es gibt sogar professionelle Zeugen, die ihr Einkommen auf diese Weise bestreiten. Das alles sind nicht jedoch nicht spezifische Missstände eines bestimmten Regimes wie dem syrischen, sondern hat eine lange Tradition.

Willkür statt Rechtsstaatlichkeit war schon in osmanischer Zeit Normalzustand – trotz der Versuche, einen funktionierenden Verfassungsstaat zu errichten. Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte der britische Konsul von Aleppo, James H. Skene, mit seinem französischen Kollegen und dem Segen des Sultans versuchte, ein Handelsgericht für Streitigkeiten, in denen Euroäer involviert waren, einzurichten, musste das Vorhaben bereits nach einem Jahr für gescheitert erklärt werden. Grund war der Umstand, dass die neue Institution es nicht vermochte, sich den nötigen Respekt zu verschaffen. (Auch dies kann, wer will, detailliert in meinem Buch “Das Ende des levantinischen Zeitalters” nachlesen und zwar in den Kap. “Mit und gegen den Staat”, bzw. “Gescheiterter Rechtstaat”, S. 84 ff.)

(Forts. folgt. – Hier geht’s zum ersten Teil.)

 

Kriegstagebuch Aleppo (8)

Warum Aleppo? Seit zwei Tagen ist der Strom in ganz Aleppo unterbrochen, hinzu kommt ein Engpass bei Brot, Gas und Brennstoffen. Ausserdem gelangt nichts nach Aleppo hinein. Trotz der Blockaden kommt es zum Diebstahl von LKWs, seien es Barrikaden der Regierungsarmee oder der Rebellen.

Schlimm sind auch die Aktivitäten der Krisenhändler. Ich habe gesehen, wie Leute sich vor den Bäckereien drängelten, wo Brot zu einem Preis von 15 SYP ausgegeben wurde, und wie kurz darauf einige Krisenhändler dasselbe Brot zu einem Preis von 200 SYP abgegeben haben. Diese Leute sind die wahren Feinde des syrischen Volkes.

Warum Aleppo? Unglücklicherweise ist die Erziehung der Menschen nur auf das Materielle ausgerichtet. Alles in Aleppo unterliegt diesem Grundsatz: Ehe, Freundschaft, soziale Beziehungen – alles folgt einer Politik der Nützlichkeit. Wenn du einem Aleppiner hilfst und ihn bei sich aufnimmst, dann wird wird er nur dein Haus verwüsten und hinter deinem Rücken deine Familie an sich reissen. So habe ich es persönlich in der Türkei erlebt.

Die Aleppiner bekämpfen sich jetzt gegenseitig. Und nicht mehr die anderen. Gestern brachte einer eine grosse Menge an Brot. Ich bat ihn um ein wenig davon für eine Mutter und ihre Kinder. Ich versicherte ihm, dass das die Wahrheit sei. Er lehnte jedoch ab. Als er mir schliesslich ein Laib Brot abgeben wollte, lehnte ich ab.

Abends erinnerte ich mich daran, wie einmal nach einem Kampf zehn Verwundete nebeneinander lagen. Als jemand Wasser für seinen Cousin brachte, wollten auch die anderen Wasser trinken, und so steckte der eine den anderen an, bis sie alle starben.

Ich sage, wenn heute der Messias vom Himmel hinabkäme, würde er an uns allen Anstoss nehmen, an Muslimen wie auch Christen. Denn wir leben gegen seine Werte. Würde Gott Mohammed schicken, so würde dieser von uns nichts wissen wollen, denn wir leben noch nicht einmal nach den Werten des Propheten.

Ich wünsche mir von allen Menschen, seien sie Muslime oder Christen, dass wir zu unseren himmlischen Werten zurückkehren. Und dass wir uns einander erbarmen, bis Gott sich unser erbarmt. Auch ich habe Fehler begangen und werde, so Gott will, in Zukunft Gutes tun. Wir alle sind fehlerhaft. Imam Ali sagt: Wer sich selbst zum Imam macht, soll bei sich selbst anfangen.

Auf militärischer Ebene ist noch immer den ganzen Tag üher der Lärm der militärischern Gefechte und der Kampfflugzeuge zu hören. Was Kommunikationsverbindung und Storm anbetrifft, so weiss niemand etwas.

Bittet in euren Gebeten für uns um Hilfe.

Aleppo, 16.12.2012

(Aus dem Arabischen von M. Kreutz)

Kriegstagebuch Aleppo (7)

Am Mittwoch schlugen Mörserraketen in der Nilstrasse ein. Natürlich kam das Bombardement von Seiten des Militärs und führte dazu, dass neun Personen auf der Stelle getötet wurden.

Gegen Donnerstag Abend wurden Gerüchte laut, dass das Regime Brot in einem Restaurant verkaufen wolle, sodass sich die Menschen dort über Stunden versammelten. Ich habe keine Ahnung, ob einer von ihnen Brot bekommen hat, jedenfalls hat bis neun Uhr keiner etwas erhalten.

Die Diphtherie hat etwas nachgelassen. Das Internet funktioniert im Stadtzentrum, aber die Kommunikation ist generell in vielen Stadtteilen nicht möglich. Was das Zentrum angeht, so sind hier die Landverbindungen wieder verfügbar.

Insgesamt ist die Atmosphäre nicht wie früher und die Waagschale neigt sich mehr zum Unbekannten. Viele desertieren vor dem Wehrdienst der Regierungstruppen. Es gibt nur noch Söldner im Land und wenige Rekruten. Viele erwarten deshalb seit Tagen Überraschungen.

Heute sind die Preise für … um zehn bis zwanzig Prozent gestiegen.

Die Situation ist eine absolute Tragödie. Hinzu kommt die bittere Not und Arbeitslosigkeit der Menschen, während die Kälte heranstürmt und die Brotversorgung unterbrochen ist. Die Lage ist sehr düster. Gestern gab es [viel] Bombenlärm, heute weniger. Heute ist die Lage weitgehend ruhig. Das schlimme aber ist, dass man in der Stille das schreckliche Geräusch eines Raketenabschusses hört.

In einer Woche wird Aleppo vielleicht vollständig ausser Kontrolle sein.

Aleppo, 14.12.2012

(Aus dem Arabischen von M. Kreutz)

Kriegstagebuch Aleppo (5)

Der Strom ist immer noch unterbrochen, ebenso Wasser, Kommunikation und Verkehr. In Aleppo wandeln sich die Dinge vom schlechten zum schlechteren. In den Strassen sammeln sich die Müllbeutel, es gibt keine Stadtverwaltung. Geräusche von Gefechten rücken näher und näher und sind jetzt nahe dem Stadtzentrum.

Die Menschen in Aleppo suchen nach einem Laib Brot, niemand kümmert sich um die Nachrichten. Die Nachrichten sind für die Extremisten und die Kinder der Oberschicht. Was den Grossteil der Menschen betrifft, so gilt ihr einziges Interesse den Gasflaschen und dem Brot – und sonst nichts. Die steigenden Preise sind für die Armen das Phantom des Todes.

Das Interesse der Medien gilt den Salafisten und Militanten, aber nach und nach wandeln sich alle Syrer in Militante, denn Armut und Not machen aus einem liebevollen Menschen einen lieblosen. Was wäre, wenn du in Aleppo lebtest, wenn dein Arbeitsplatz verbrannt wäre und du Kinder hättest, aber kein Geld? Hier in Aleppo gibt es jemanden, der Teile seines Körpers zum Verkauf feilbietet.

Hier gibt es Leute, die über die Grenzen kamen und alles, was sie hier finden, als ihre Beute betrachten. Denn was verboten ist, wird in der Not erlaubt. Aleppo ist mittlerweile voll von Krisengewinnlern. Sie nutzen ihren Einfluss aus und handeln mit den elementaren Bedürfnissen der Bürger. Dabei ist die Situation von Damaskus erheblich besser als die von Aleppo.

Die Krisengewinnler sind überall, die Ausbeutung des Menschen ist zulässig geworden. Kinder mit dünner Kleidung, die nicht vor der Kälte schützt, müssen betteln gehen. Die Schulen in Aleppo sind allesamt voll von Obdachlosen. Die Märkte sind voll von türkischen Waren, während es keine syrischen mehr gibt, was daran liegt, dass alle Betriebe in Aleppo zu arbeiten aufgehört haben. Allmählich wird die syrische Währung verschwinden.

Gestern Nacht bis zum Morgen hielt auch der Gefechtslärm an. Viele Menschen entdecken morgens vor ihren Häusern, wenn sie zur Arbeit gehen, die Leichen unbekannter Personen. Natürlich wird der nächstgelegene Park zum Friedhof.

Um sieben in der Nacht ist alles vorbei. Jeder ist für seinen eigenen Schutz verantwortlich. Vielleicht wäre der Tod durch die Chemie keine üble Sache. Oder der Tod durch einen Bombenabwurf. Das schlimmste ist, wenn du getroffen wirst und am Leben bleibst. Denn dann kannst du jeden Moment sterben – und keiner ist da, der dir beisteht.

Aleppo, 11.12.2012

(Aus dem Arabischen von Michael Kreutz)

Kriegstagebuch Aleppo (4)

Heute ist der Strom in der ganzen Stadt ausgefallen. Handy- und Telefonverbindungen sind unterbrochen. In einigen Teilen funktionieren sie einige Minuten am Tag.

Brot ist nicht erhätllich, zumal der Kilopreis auf 200 syrische Lira (etwa 2 Euro – M.K.) angestiegen ist, d.h. etwa 5 türkische Lira, was etwa 2,5 Dollar sind.

Ein Arzt hat mir erzählt, dass in den letzten drei Tagen die Krankenhäuser, darunter das Averroes- und das Salam-Krankenhaus, nicht mehr mit Diesel versorgt wurden, sodass es bald womöglich noch mehr Tote geben wird, besonders in kritischen Situationen, und zwar aus Treibstoffmangel.

In der Nacht gab es stundenlange Scharmützel, die bis zum frühen Morgen andauerten. Es war eine kalte Nacht ohne Strom. Frühmorgens begannen viele Leute den Sturm auf die Bäume, um sie zu fällen, damit sie selbst heizen und kochen können.

Die Preise für Brennstoffe sind immer noch nicht normal und diese ausserdem kaum zu bekommen. Natürlich bedeutet ein Steigen der Preise für Brennstoff auch, dass der öffentliche Verkehr teurer wird.

Leider haben manche Leute eine Neigung zum Atheismus entwickelt und einige von ihnen bekennen sich offen dazu. Ich hoffe, dass die internationale oder die islamische Gemeinschaft [sagen kann, dass sie] nicht in der Lage war, etwas zu tun. Nur Wodka hat man uns gegeben, damit die Menschen nicht vor Kälte sterben und damit sie die Hände von den Parks lassen.

Der neue Slogan der Revolution lautet:

„Gott – Syrien – Wodka“ und basta!

Aleppo, 10.12.2012

(Aus dem Arabischen von Michael Kreutz)

Kriegstagebuch Aleppo (3)

Auch heute leidet Aleppo unter einer Knappheit an Elektrizität, Wasser, Brot und Brennmaterial. In den Strassen von Aleppo gibt es an jeder Ecke militärische Sperren.

Das schlimmste ist, dass kleine Kinder betteln gehen und auf der Strasse verkaufen. Kinder, die die Schulen verlassen, sind aller Arten von körperlicher und sexueller Ausbeutung ausgesetzt, wie auch erpresserischer unmoralischer Praktiken.

Den Bettlern begegnet man überall und überall sieht man Hungernde. Die Lehren des Islam sagen: keiner von euch hat Vertrauen, wenn er schläft und einen hungrigen Nachbarn an seiner Seite weiss.

Auf den Märkten gibt es vieles, aber das Problem ist, dass die Leute kein Geld haben. Der Winter überfällt die Stadt wie ein reissendes Wildtier, das das kalte Fleisch der Kinder verzehren will.

Nach und nach verschwinden die Gärten aus der Stadt, denn man ist eifrig dabei, die Bäume zu fällen und als Brennholz für die Heizung zu verkaufen.
Es ist eine humanitäre Katastrophe. Bitte versteht, was in Aleppo geschieht.

Aleppo, 9.12.2012

(Aus dem Arabischen von Michael Kreutz)

Kriegstagebuch Aleppo (2)

Heute ist in einigen Teilen der Stadt die Stromversorgung wieder zurückgekehrt, sie ist jedoch schwach und reicht gerade für die Beleuchtung, nicht mehr. Manchmal reicht sie jedoch noch nicht einmal dafür. Seit gestern morgen kommt kein Wasser mehr und auch jetzt noch nicht.

In einigen Vierteln Aleppos gibt es Demonstrationen gegen die Freie Armee, die mittlerweile voll von Dieben und militanten Islamisten ist. Viele Kinder leben in der Kälte, ohne Heizung, Essen oder Brot. Das Brot ist knapp geworden, auch gibt es kein Mehl. Brennmaterial ist ebenfalls kaum aufzutreiben und sehr teuer.

Gestern waren viele Gefechte zu hören, es gibt aber auch Gegenden, die in erheblichem Masse dem Feuer zum Opfer gefallen sind, wie Bustan al-Qasr, wo vor etwa vier Tagen der Bombenabwurf auf eine Bäckerei an die hundert Menschen das Leben gekostet hat, die Schlange standen, um Brot zu kaufen.

Gerüchte gehen um, dass der Kommandant der Luftstreitkräfte dem Präsidenten Bashar al-Asad geschworen hat, dass er innerhalb von drei Tagen imstande sein werde, in Bustan al-Qasr spazierenzugehen, was wahrscheinlich der Grund für die jüngste Eskalation ist.

Das Internet funktioniert, doch gibt es keinen Strom, um ins Internet zu gehen. Die Dinge stehen nicht gut, zumal es dieser Tage eine Hungersnot in Aleppo gibt. Die meisten Familien werden deshalb bei Wochenbeginn am Samstag oder Sonntag in die Türkei gehen, wo die türkische Grenze Zeuge einer grossen Wanderungsbewegung sein wird.

Viele Menschen sagten mir, dass sie in die Türkei gehen werden.

Aleppo, 7.12.2012

(Aus dem Arabischen von Michael Kreutz)

Kriegstagebuch Aleppo (1)

Ab heute startet auf diesem Blog das Kriegstagebuch Aleppo. Die einzelnen Beiträge stammen von Mohammed H., der in Aleppo unweit der historischen, jetzt leider zerstörten Altstadt sein Zuhause hat. Die Beiträge erscheinen in unregelmässigen Abständen, weil in Aleppo regelmässig der Strom ausfällt. Und das ist derzeit noch eines der geringeren Probleme, die die Einwohner dort haben. Die Originaltexte sind auf Arabisch und erscheinen hier in deutscher Übersetzung. Wie lange das Kriegstagebuch geführt werden kann, lässt sich noch nicht absehen. Ein Ende der Reihe ist jedoch nicht notwendigerweise ein schlechtes Zeichen, da der Verfasser je nach Lage der Dinge versuchen wird, in die Türkei zu gelangen. – M.K.

Kriegstagebuch Aleppo, 1. Teil / Von Mohammed H.

An alle, die es interessiert,

die Situation hier in Aleppo hat sich zu einer äussersten Tragödie entwickelt, besonders nachdem Brot und Mehl auf den Märkten knapp wurden. Unglücklicherweise sind die Menschen zu Wölfen in Sachen Mundraub geworden. Betrüblich ist auch, dass hier viele Familien nichts besitzen, um Brot kaufen zu können.

Seit mindestens zehn Tagen ist auch die Stromversorgung in einigen Gegenden unterbrochen, in meiner eigenen Gegend sei mehr als zwei Tagen. Geschmuggeltes Brennmaterial ist um 60% im Preis gestiegen. Die Situation hat sich zu einer absoluten Tragödie ausgewirkt.
Wir bitten Gott um einen glücklichen Ausgang und Liebe unter den Menschen.

Aleppo, 5.12.2012

Es gibt weder Strom noch Brot, auch das Wasser ist in einigen Vierteln abgesperrt. Der Preis für Brennmaterial ist weiter gestiegen. Einige Menschen fällen Bäume in ihren Gärten, um sie zum heizen zu benutzen.

Die Situation ist absolut erdrückend. Auf die Strasse zu gehen ist äusserst gefährlich und bei Dunkelheit sieht man die Hand nicht vor Augen.

Aleppo, 6.12.2012

Translate